Im Gespräch mit Marie Rüdiger: Das Refugee Teacher Program in Brandenburg

Über ein Jahr arbeitet IRC in Brandenburg eng mit dem Refugee Teacher Program zusammen, welches an der Universität Potsdam angeschlossen ist. Erfahren Sie im Gespräch mit der wissenschaftlichen Mitarbeiterin Marie Rüdiger mehr über die Hintergründe des Programms, die Herausforderungen von Lehrer*innen, die nach Deutschland kommen und warum ein von Diversität und Offenheit geprägtes Schulsystem wichtig ist. Viel Spaß beim Lesen.

Wie ist das Projekt entstanden und was sind die Ziele des Projekts?

Marie Rüdiger: Das Refugee Teachers Program wurde 2016 ins Leben gerufen auf Initiative von Miriam Vock, Professorin für Empirische Unterrichts- und Interventionsforschung an der Universität Potsdam.

Mit der Qualifizierung unterstützt die Universität Potsdam die Weiterbildung geflüchteter und migrierter Lehrkräfte und leistet damit einen Beitrag zur Integration der Zielgruppe in Arbeitsmarkt und Gesellschaft. Internationale Lehrkräfte mit Berufserfahrung werden als Leistungsträger*innen wahrgenommen, auf deren Potenzial die Brandenburger Schullandschaft (auch) im Hinblick auf den Lehrkräftemangel nicht verzichten kann. Zudem möchte die Qualifizierung in der Adressierung der Lehrkräfte mit Flucht-/Migrationsbiografie eine Personengruppe ansprechen, die an Brandenburger Schulen bisher unterrepräsentiert ist.

Bild: © Sandra Scholz

Wie viele Menschen konnten Sie bereits erreichen?

MR: In den vergangenen fünf Jahren haben bereits über 100 Lehrkräfte das Refugee Teachers Program absolviert, die nun überwiegend an Schulen in Berlin und Brandenburg tätig sind. Neun Personen nehmen derzeit noch am Programm teil. Bis 31. Januar 2022 können sich wieder Interessierte für den nächsten Jahrgang bewerben. Nähere Informationen finden sich unter: https://www.uni-potsdam.de/de/zelb/refugee-teachers-program/bewerbung

Was sind die größten Herausforderungen für Lehrer*innen, die nach Deutschland kommen und ihren Abschluss anerkennen möchten?

MR: Es gibt viele formelle Hürden, weshalb der Weg „zurück“ in die Schule oft lang und schwer ist für diese Zielgruppe. Im Ausland ausgebildete Lehrkräfte, vor allem der Sekundarstufe, haben oftmals nur ein Fach studiert und unterrichtet. In Deutschland ist die Norm – und damit auch eine Voraussetzung im Anerkennungsprozess – dass (mindestens) zwei Fächer studiert und unterrichten werden. Ein Nachstudieren des fehlenden Faches ist intensiv und kostet viel Zeit. Außerdem muss man auch hier ein hohes Deutschniveau nachweisen (C1 nach GER), um studieren zu können. Später für den Schuldienst wird sogar C2 benötigt, das ist das höchste Sprachniveau des GER.

Nicht zuletzt ist die Frage der Anerkennung auch immer eine sehr persönliche Angelegenheit. Stellen Sie sich vor, Sie sind Lehrer*in, haben bereits viele Jahre erfolgreich unterrichtet und ihren Job geliebt. Dann müssen Sie (warum auch immer) Ihr Land verlassen, sich eine neue Heimat aufbauen und dort sagt man Ihnen: „Nein, Sie sind keine ‚richtige‘ Lehrerin, sie dürfen hier nicht arbeiten.“ Man kann sich vorstellen, was das mit einem macht. Unsicherheiten, Zukunftsängste, Identitätskrisen und Selbstzweifel sind oftmals unsichtbare aber umso stärkere Herausforderungen, mit denen unsere Zielgruppe zu kämpfen hat.

Bild: © Sandra Scholz

Worin bestehen für Sie die größten Chancen in der Zusammenarbeit mit IRC und dem Programm Healing Classrooms?

MR: Wir begleiten unsere Absolvent*innen auch noch, nachdem sie die Teilnahme an unserem Qualifizierungsprogramm abgeschlossen haben. Dadurch wissen wir, dass viele von ihnen an Schulen und in Klassen eingesetzt werden, wo besonders viele Schüler*innen einen Migrations- und/oder Fluchthintergrund mitbringen. Sie berichten uns, dass sie in der täglichen Arbeit oftmals an ihre Grenzen stoßen. Ja, sie wissen oft selbst, was Flucht bedeutet und können die Schüler*innen auf Arabisch, Kurdisch oder Türkisch ansprechen, aber sozial-emotionales Lernen braucht noch mehr. Hier erscheint uns das Konzept Healing Classrooms als sehr passendes Angebot zur Weiterentwicklung unserer Lehrkräfte hin zu Multiplikator*innen für eine sichere Schulumgebung für Schüler*innen. Passend dazu erleben wir, dass unsere Lehrkräfte nach ein bis zwei Jahren Tätigkeit an ihren Schulen nun angekommen sind in unserem Bildungssystem und mehr als bereit sind, sich fachlich und pädagogisch weiterzubilden. Deshalb haben wir für Anfang 2022 bereits eine weitere Healing Classroom Fortbildungsreihe explizit für unsere Zielgruppe organisiert.

Was sind die wichtigsten Aufgaben für ein inklusives Bildungssystem?

MR: Für ein inklusives Bildungssystem braucht es unserer Meinung nach vor allem eine Öffnung hin zu mehr Vielfalt, Diversität und Innovation. Die Schulen sowie all ihre Akteur*innen müssen sich zwangsläufig auf Inklusion und Migration einstellen, und zwar langfristig. Das beginnt bei multiprofessionellen Teams in Schulen, die Schüler*innen individuell und entsprechend ihren Bedürfnissen begleiten, beinhaltet zudem eine diversitätssensible und inklusive Lehrer*innen(weiter)bildung und reicht bis hin zu einer systematischen Inklusion und Anerkennung von Lehrkräften mit internationalen Abschlüssen.